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Während des Ersten Weltkrieges schrieb meine Großmutter, Ida Jelinowski (geb. Kronenberg), das folgende Gedicht an ihren Mann an der Front:

Die Soldatenfrau

Liebster, jüngst hab' ich an dich gedacht.

Es rauschte der Regen durch die Nacht.

Da wollt' es mich nimmer im Kissen leiden.

Wer trägt nun schwerer von uns beiden?

Wär' ich bei dir, mir wär' nicht bang,

aber die Nächte sind dunkel und lang.

Mann sein ist hart, ich weiß es allein;

härter fast ist es, kein Mann zu sein.

Gestern platzte dein Bub heraus:

"Kommt denn Vater nicht bald nach Haus?

Warum ist Krieg und der Vater dabei?"

Und sonst noch kindliches Vielerei,

Wie so die liebe Unschuld fragt.

Liebster, was hättest du ihm gesagt?

Du bist Soldat; doch auch ich steh'

bei einer herrlichen, großen Armee,

einer Armee von Müttern und Frau'n,

die an der Zukunft weiterbau'n.

So wird wohl einst noch alles gut,

wenn nur jeder das Seine tut.

Liebster, so hab' ich jüngst gedacht.

Der Regen rauschte durch die Nacht.

Mich wollte es nimmer im Kissen leiden.

Es trägt wohl jeder sein Teil von uns beiden. * * *

Amtliche Unterlagen weisen auf eine Namenänderung am 19. Oktober 1929:

Der Kaufmann Ferdinand J e l i n o w s k i in Gelsenkirchen-Buer, geboren am 28. November 1879 in Johannisburg, Kreis Johannisburg, führt an Stelle des bisherigen Familiennamens den Familiennamen
K r o n e n b e r g Diese Änderung des Familiennamens estreckt sich auf die Ehefrau und diejenigen minderjährigen Kinder des Genannten, die unter seiner elterlichen Gewalt stehen und seinen bisherigen Namen tragen.

* * *

Meine Freunde in Geseke haben mir folgendes Flugblatt gegeben, als ich 1995 die Stadt wieder besuchte. Nachdem dieses Flugblatt eröffentlicht wurde, begannen die Nazis Landwirte zu fotografieren, die noch mit Juden handelten. Allmählich mußten sie ihre Geschäfte an einen "Volksgenossen" ungünstig verkaufen. Beachtenswert sind die Art und Weise der Argumentation in Paragraph 2 sowie die letzten zwei Paragraphen und der letzte Satz. Dachau war soeben geöffnet. Trotzdem, zu dieser Zeit (1933) hätte man noch etwas dagegen machen können.

Der Deutsche Bauer hat nichts mit dem Juden zu schaffen!

Es ist festgestellt worden, daß es auch jetzt noch Landwirte gibt, die ihr Getreide bei Juden verkaufen. Das darf nicht mehr sein! Jeder Bauer ist verpflichtet, möglichst nur mit Genossenschaften, Kornhäuser und christlichen Händlern zu arbeiten.

Das ist den Bauern und Bauersfrauen selbstverständlich, die mit der Zeit mitgegangen sind. Diejenigen, die es auch jetzt noch nicht eingesehen haben, müssen dazu erzogen werden.

Das Getreide kann ohne Schwierigkeiten sehr gut durch Genossenschaften, Kornhäuser und christliche Händler verwertet werden. Wer mit Juden Lieferungsverträge abgeschlossen hat oder jüdischen Firmen Geld schuldet, hat sich mit der Genossenschaft, dem Kornhaus oder dem christlichen Händler in Verbindung zu setzen, um mit diesen zu vereinbaren, wie die Verpflichtung erledigt werden kann.

Kunstdünger, Kraftfutter und dergl. dürfen nur noch durch Genossenschaften, Kornhäuser und christliche Händler bezogen werden! Für den Absatz von Fettvieh gibt es überall Viehverwertungsgenossenschaften und christliche Händler. Kein Bauer hat deswegen noch das Recht, Fettvieh an Juden zu verkaufen oder durch Juden verkaufen zu lassen.

Der Absatz von Milchvieh und Pferden wird ebenfalls in kürzester Zeit durch Genossenschaften und christliche Händler möglich sein. Zu dem Zweck sind bei den Viehverwertungsgenossenschaften sofort die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen. Nur solange diese noch nicht voll ausgebaut sind, wird ausnahmsweise zugegeben, sich der bisherigen Händler zu bedienen.

Es ist selbstverständlich, daß die Genossenschaften, Kornhäuser und christliche Händler alles daran zusetzen haben, sie so gut wie eben möglich zu bedienen. Anderseits wird mit allen Mitteln dahin gearbeitet, daß der Jude auf dem Hofe des Bauern nichts mehr zu suchen hat und kein Bauer und Bauersfrau zukünftig noch mit Juden Geschäte abschließt.

Ortsführer und Stellvertreter - insbesondere die Stellvertreter für das Genossenschaftswesen - werden hiermit verpflichtet und sind mir dafür verantwortlich, daß die Produkte und Produktionsmittel, zu deren Verkauf oder Ankauf Juden nicht notwendig sind, unter keinen Umständen mehr bei Juden verkauft oder gekauft werden.

Jeder Berufsgenosse, der trotzdem noch mit Juden arbeitet, ist mir sofort zu melden. Sein Name wird dann durch die Zeitungen bekanntgegeben und kommt dann später auch an den Bekanntmachungstafeln, die in einer Wirtschaft in jedem Ort angebracht werden, zum Aushang.

Die Ortsführer und Stellvertreter, die sich nicht mit allen Mitteln dafür einsetzen, daß meine Anweisung durchgeführt wird, werden ihres Amtes entsetzt.

Wer dagegen arbeitet, wird als Saboteur behandelt.

Wer heute noch sein Getreide an den Juden verkauft, hat damit zu rechnen, daß er ins Konzentrationslager kommt.

Heil Hitler!
Der Bezirksbauernführer
i. V. gez. Berendes

* * *

In der Nacht des 9. November 1938 fand die sogenannte Reichskristall- oder Pogromnacht statt. Während dieser Nacht wurden Synagogen und jüdische Geschäfte in Deutschland geplündert und in Brand gesteckt. Viele Juden wurden ermordet. Der folgende Bericht, von dem von den Nazis ernannten Bürgermeister von Geseke Reckhard war eine reine Lüge. Er wußte ganz genau was an dieser Nacht passieren würde, auch wenn er nicht direkt daran beteiligt war. Die SS hat diese Ausschreitungen organisiert und Reckhard war SS-Mann. Es ist auch auffallend, daß der Standortführer der SS um 3.30 sofort auf der Stelle war. Worte wie "Schutzhaft" und "zu ihrer eigenen Sicherheit" dienten nur dazu diesen verbrecherischen Ereignissen eine Scheinlegalität zu geben.

Der Bügermeister
als Ortspolizeibehörde.
Abt. IVb.
Geseke, den 10. November 1938

1) An die Geheime Polizeistelle Dortmund.

Unter Bezugnahme auf die bereits heute gegen 6 Uhr früh durch meinen Sachbearbeiter erfolgte telefonische Meldung berichte ich wie folgt:

In der vergangenen Nacht kam es etwa gegen 3.30 Uhr zu Tumulten vor hiesigen Judenhäusern. Es handelte sich hierbei insbesondere um die Gebäude der Juden Artur Steinberg und Max Abel. Ersterer besitzt ein größeres Geschäftshaus, in dem dieser früher eine Eisenwarenhandlung betrieb, die aber seit geraumer Zeit an eien arischen Volksgenossen verpachtet ist. Während die Geschäftsräume sich im Erdgeschoß befinden und die Lagerräme im Dachgeschoß, bewohnt der Jude Steinberg selbst die dazwischen liegende 1.Etage. An dieser wurden sämtliche Fensterscheiben eingeworfen. Die Demonstranten verlangten stürmisch, daß der Jude Steinberg herunter kommen solle. Wie dieses nicht geschah, und die Haustür nicht geöffnet wurde, ist man mittels einer Leiter durch ein Fenster eingestiegen und hat den Juden gezwungen, mit nach unten zu kommen. Beschädigungen sind lediglich an den Fensterscheiben der von Steinberg bewohnten Etage erfolgt, während alle anderen Gebäudeteile, die verpachtet sind, völlig unversehrt blieben.

Inzwischen waren mehrere Demonstranten zu dem Gebäude des Viehjuden Abel gezogen, der an mehrere arische Volksgenossen vermietet hat, während er selbst die 1.Etage bewohnt. Man hat durch die im Erdgeschoß Wohnenden die Türe öffnen lassen, ist alsdann in die Wohnung Abel gegangen, hat Abel aufgefordert aufzustehen und mitzukommen und sämtliche Fensterscheiben an seiner Privatwohnung zertrümmert. Mittlerweile war der Standortführer der SS, der von irgend einer Seite telefonisch von den Vorgängen unterrichtet war, mit mehreren SS-Männern erschienen, der um Weiterungen zu vermeiden, die beiden Juden vorläufig in Obhut nahm. Die Demonstranten wollten nunmehr in die jüdische Synagoge eindringen, um wahrscheinlich dort ebenfalls zu demolieren. Über diese Synagoge steht der hiesige Polizei- bezw. Stadtverwaltung seit mehreren Wochen durch eine schriftliche Erklärung des hies. jädischen Synagogenbeauftragten das vorläufig uneingeschränkte Verfügungsrecht zu. Aus diesem Grund hat der SS-Führer verhindert, daß irgendwelche Beschädigungen an der Synagoge vorgenommen wurden. Er ließ die beiden Juden in diese Synagoge hineinbringen und vorläufig unter Bewachung der SS stellen.

Inzwischen waren die Juden Herz und Kronenberg, die in arischen Häusern zur Miete wohnen, ebenfalls aus dem Bett geholt worden und wurden zur Synagoge gebracht.

Beschädigungen an jüdischen Wohnungen, die bei arischen Volksgenossen zur Miete wohnen, sind nicht vorgekommen. Durch die SS wurden die 4 Juden alsdann zur Polizeiverwaltung gebracht und dort, denn zu befürchten war, daß es zu weiteren Tätlichkeiten gegenüber ihnen kommen würde, zu ihrer eigenen Sicherheit vorläufig in Schutzhaft genommen. Auf Anordnung des diensthabenden Assessors bei der dortigen Stelle und um zu vermeiden, daß bei einer Freilassung der Juden weitere Ausschreitungen entstehen, werden dieselben bislang noch in Schutzhaft gehalten.

Personalbogen über die Juden werden in der Anlage beigefügt.

:/: :/:

2) Zd. B.

* * *

Wärend dieser Zeit war es noch Strategie der Nazis die Juden unter Druck zu setzen auszuwandern. Nach der Kristallnacht forcierten die Nazis den Druck auf Juden, auszuwandern. Die sog. Endlösung war noch nicht beschlossen. Mein Großvater wurde gezwungen das folgende Dokument zu unterzeichnen:

..G.e.s.e.k.e.., den ..6. Dezember...1938...

Auf Vorladung erscheint der Jude ...Ferdinand...Kronenberg..... geboren am ..28.11.1879.... in ..Johannisburg.i.Ostpr......wohnhaft in G e s e k e ..Orth.ab.Hagen-....Straße .20... und erklärt:

Mir ist eröffnet worden, daß ich meine Auswanderung sowie die meiner Familienangehörigen, Ehefrau und Kinder, umgehend zu betreiben habe. Die Auswanderung hat innerhalb einer Frist von 14 Tagen, im Höchstfalle von 3 Wochen - gerechnet vom Zeitpunkt der Eröffnung - zu erfolgen, zum mindesten muß ich bei Ablauf dieser Frist Unterlagen vorweisen, aus denen zu ersehen ist, daß meine Versuche zur Auswanderung greifbare Formen angenommen haben.

Kann ich diesen Nachweis nicht erbringen, und verzögere ich meine Auswanderung und die meiner Angehörigen absichtlich, so habe ich mit einer erneuten Inschutzhaftnahme bezw. mit anderen staatspolizeilichen Maßnahmen zu rechnen.

v. g. u.

gez. Ferdinand Kronenberg

g. w. o.

* * *

Wie viele andere deutsche Juden versuchten meine Großeltern Deutschland zu verlassen, und ihrem Sohn Werner, meinem Vater, in die Vereinigten Staaten zu folgen.

Form DC
811 . 11

American Consulate Stuttgart, Postschliessfach 949

NUR DIE ANGEKREUTZTEN STELLEN

BEZIEHEN SICH AUF IHREN FALL

Das Konsulat erhielt Burgschaften bezw. sonstige Dokumente in Zusammenhang mit Ihrer beabsichtigten Einwanderung in die Vereinigten Staaten. Der Eingang von Burgschaften bedeutet noch nicht, dass eine Vormerkung erfolgt ist. Die Vormerkung gilt erst dann wenn sie auf dem vorgeschriebenen Vormerkblatt vorgenommen und von Konsulat bestaetigt ist. Die Vormerknummer ist nicht die Quotenummer.

In Anbetracht der grossen Nachfrage nach Einwanderungsvisen fuer die Vereinigten Staaten von Personen, die eine niedrigere Wartenummer haben als die Ihrige, wird Ihr Fall in absehbarer Zeit nicht in Bearbeitung genommen werden koennen. Es ist daher zur Zeit nicht angaengig schon jetzt zu bestimmen, ob die Burgschaften ausreichen, zumal auch in allgemeinen Burgschaften und damit im Zusammenhang stehende Dokumente nach einem Jahr ihre Gueltigkeit verlieren. Sie werden rechtzeitig benachrichtigt werden, wenn Ihre Wartenummer an die Reihe kommt, und sie muessen dann Unterlagen neueren Datums ueber die Sicherstellung Ihres Lebenunterhalts in den Vereinigten Staaten vorlegen.

Affidavits fuer deutsche Vormerkungsnummern ueber 24,000 sollten nicht eingesandt werden. Photokopien werden nicht angenommen.

Eiwanderungsvisen werden nur streng der Reihenfolge nach ausgegeben, ausser in den Faellen, wo das Einwanderungsgesetz Bevorzugung (s.U.) ausdruecklich vorsieht. Gesuche um Vorladung ausser der Reihe werden nicht beruecksichtigt und auch nicht beantwortet. Ein Tausch auf der Warteliste bezw. eune Uebertragung der Vormerkungsnummer auf eine andere Person ist unter keinen Umstand statthaft.

Bevorzugung laut Gestz geniessen nur folgende Personen:

A.

Eltern (nicht Stiefeltern) von ueber 21 Jahren alten amerikanischen Staatsbuergern:

Ehefrauen und Ehemaenner und unverheiratete, minderjaerige Kinder (nicht stiefkinder) von amerikanischen Staatsbuergern bezw. buergerinnen.

(Fuer diese muss seitens der betreffenden Angehoerigen Formular 633 ausgemacht werden.)

B.

Ehefrauen, deren Ehemann, und minderjaehrige, unverheiratete Kinder deren Vater bezw. Mutter rechtmaessig in die Vereinigten Staaten eingewandert und dort ansaessig ist.

(Fuer diese muss seitens des betreffenden Angehoerigen Formular 575 ausgemacht werden.)

Affidavits werden prinzipiell nicht herausgegeben, auch nicht zum Photokopieren.

Benachrichtigen Sie bitte Ihren Burgschaftsaussteller gemaess #1 dieses Schreibens.

Amerikanisches Konsulat

* * *

Die Nummern, die meine Großeltern zugeteilt wurden, waren natürlich viel höher als 24,000. Das letzte noch erhaltene Schreiben meines Großvaters folgt. Juden, die nach Theresienstadt transportiert wurden mußten ein Depot von 50 Reichsmark pro Person einzahlen, welches sie angeblich in Theresienstadt zurückbekommen würden. Meine Großeltern hatten kein Geld mehr. Ein Vertrauensmann (Herr Schreiber) der Reichvereinigung der Juden in Deutschland sollte ihnen den "Mitnahmebetrag" besorgen. Ferner sollten sie auch Habseligkeiten, z.B. eine Matratze, mitnehmen können. Da mein Großvater Schneider war, wollte er seine Nähmaschine mitbringen, um damit seinen Unterhalt zu verdienen, wie es die Nazis den Juden versichert hatten. Auf diese hinterlistige Weise haben die Nazis es fertiggebracht, daß viele Juden ohne großen Aufruhr in die Transportzüge einstiegen. Terror hat gewiß auch eine große Rolle gespielt. Es muß in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, daß es sich hier zumeist um ältere Menschen handelte; viele der jüngeren Generation waren schon ausgewandert oder verhaftet, was sicherlich zum Gefühl der Machtlosigkeit und Ergebung beigetragen hat.

Geseke d. 21.7.42
Werter Herr Schreiber:
Habe noch die Post abgewartet aber von Ihnen nichts bekommen. Nehme an, daß die Nähmaschine + Matrazen nicht genehmigt sind, deshalb habe alles aufgeführt. Haben Sie den Mitnahmebetrag von je 50 RM für uns besorgt, sonst müßte mir sie noch besorgen. Geben Sie mir bitte sofort Nachricht. Hoffe daß alles richtig gemacht habe u. bin mit bestem Gruß

Ihr
F. Kronenberg

Mietsbuch habe beigelegt [abstrei(chen) Nähmaschine]

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